Anhand der oben angeführten Erklärungen konnte gezeigt werden, wie unbewältigte psychische Vorgänge zu körperlichen Beschwerden und Erkrankungen führen können. Dabei wurden zwei sogenannte „Stressachsen“ vorgestellt. Die erste Stressachse ist die Limbische-Hypothalamus-Sympathikus-Achse (neuronal), die zweite ist die Limbische-Hypothalamus-Hypophysen-Achse (endokrin).
Viele traumatisierte Menschen leiden auch unter chronischen Schmerzen, bei denen, trotz aufwendiger Diagnostik, keine hinreichenden auslösenden körperlichen Ursachen gefunden werden konnten. Man tut sich schwer chronische Schmerzen als psychogene Schmerzen zu klassifizieren. Oft vergehen für den Patienten viele Jahre mit dem häufigen Aufsuchen von Fachärzten, mit Krankschreibungen und jahrelanger medikamentöser Schmerztherapie, bis eine psychosomatische Abklärung stattfindet.
Psychogener Schmerz ist Ausdruck einer Stressverarbeitungsstörung im limbischen System.
Schmerzreize werden nach der Umschaltung vom ersten auf das zweite Neuron im Hinterhorn des Rückenmarks zum Thalamus weitergeleitet. Von dort werden die peripheren Schmerzreize zum somatosensorischen Kortex im vorderen Parietallappen geleitet, wo eine topographische Verortung stattfindet („Homunculus“). Dort wird die Reizstärke festgestellt und der Schmerz als solcher wahrgenommen. Gleichzeitig werden die Schmerzreize vom Thalamus aus auch an das limbische System und den Präfrontalkortex geleitet, wo eine emotionale Bewertung des Schmerzes stattfindet. Früher dachte man, das die Reizstärke auch der Schmerzstärke entspricht, d.h. je stärker die Reizstärke, desto stärker die Schmerzen. Zur Wahrnehmung der Schmerzstärke werden aber vielmehr andere Hirnareale als der somatosensorischen Kortex herangezogen. Diese sind Areale im limbischen System wie die Amygdala, der Hippocampus und der Gyrus cinguli. Auch der Präfrontalkortex, der regulierend auf das limbische System einwirkt, wird zur Schmerzinterpretation herangezogen. All die genannten Strukturen zählen zu dem Stressverarbeitungssystems des Gehirns.
Sind im limbischen System noch alte verletzende Ereignisse gespeichert (Traumagedächtnis), dann bewirkt dies, wie bereits schon erwähnt, Stress. Entscheidend für die Schmerzinterpretation ist das Interagieren der aufgezählten Hirnareale. Es spielen auch der Umgang mit vorausgegangenen Schmerzerfahrungen und der Umgang mit Disstress eine Rolle.
Schmerzen stellen eine besondere Variante von Stress für das Stressverarbeitungssystem des Gehirns dar, sie haben eine weitreichende Überlappung mit diesem. Durch die dysfunktionale Verarbeitung von Stress wird im Hypothalamus das Stresshormon Corticotropin-Releasing Hormon (CRH) ausgeschüttet, welches auf absteigend hemmende Schmerzbahnen einwirkt und dazu führt, dass Schmerzreize bei der Umschaltung vom ersten auf das zweite Neuron auf Rückenmarksebene moduliert werden und zu einer Schmerzverstärkung führen.
Es gibt Studien (Fitzgerald, 2005; Lidow, 2002; Hermann et al., 2006; Taddio et al.; 1997, 2002), die einen Zusammenhang zwischen früher erlebten Schmerzen und einer späteren erhöhten Schmerzempfindlichkeit belegen. Das Traumagedächtnis speichert frühere Schmerz- und Stresserfahrungen und wie darauf reagiert wurde. Früher erlebter Schmerz ist im Traumagedächtnis als Schmerzgedächtnis noch präsent.
Eine tierexperimentelle Studie (Alvarez et al. 2013) zeigt, dass postnataler Disstress durch eine längere Trennung vom Muttertier später im Erwachsenenalter durch anhaltende Belastungssituationen zu Muskelschmerzen führt.
Menschen, die in ihrer Kindheit Stress z.B. aufgrund von dysfunktionalen Familienverhältnissen, häuslicher Gewalt, längere Trennung von den Eltern und somit wenig Bindung und liebevolle Beziehung erlebt haben, sind im Erwachsenenalter stress- und schmerzanfälliger. Das Neuropeptid Oxytocin, das auch als „Kuschelhormon“ bezeichnet wird, wird durch das Erleben von Bindung, Beziehung und sozialer Unterstützung im Hypothalamus aktiviert. Es reduziert Stress und Angst und wirkt hemmend auf die Stresshormone Cortisol und das schmerzsteigernde CRH. Auch wird durch Oxytocin eine Angst induzierte Amygdala-Aktivierung abgebaut (Rash et al., 2014). Zahlreiche Studien belegen auch, dass soziale Unterstützung zu einer Schmerzreduktion führt.
Mangelnde Bindungserfahrung führt auch zu einer Verminderung der Ausreifung des endogenen Opiat-Systems und deren Rezeptoren. Je mehr Opiatrezeptoren vorhanden sind und je mehr Opiate ausgeschüttet werden, desto höher ist die Schmerzschwelle (D´Amato und Pavone, 2012). Mangelnde Bindung führt zu einer Reduzierung von Opiatrezeptoren im Thalamus, der Amygdala und dem präfrontalem Kortex und somit zu einer gesteigerten Schmerzsensibilität (Kiosterakis et al., 2009; Zubieta et al., 2001; Nummenmaa et al., 2015). Unsicheres Bindungsverhalten hat bei chronischen Schmerzpatienten erhebliche Auswirkungen. So wird Schmerz bedrohlicher erlebt, die Schmerzintensität und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen werden deutlich stärker wahrgenommen und schmerzbezogene Ängste sind erheblich ausgeprägter (Meredith et al., 2008).
In der frühen Kindheit einwirkende ungünstige Umweltfaktoren wirken sich später in einer erhöhten Stressanfälligkeit, mit einhergehender verminderter Stress- und Konfliktbewältigung aus. Dysfunktionale Stressverarbeitung führt über die beschriebenen Zusammenhänge zu einer vermehrten Schmerzwahrnehmung mit gesteigertem Schmerzerleben. Ungünstige, in der Kindheit einwirkende Faktoren, können nach Egle (Egle et al., 1997, 2015) z.B. Arbeitslosigkeit der Eltern, alleinerziehende Mutter, frühes Ausgrenzungserleben, autoritäres väterliches Verhalten, psychische Störungen von Mutter und/oder Vater, chronische Disharmonie in der Herkunftsfamilie und andere sein.